Und sie marschieren wieder so selbstbewusst wie vor 77 Jahren

Szenen in der Wetzlarer Altstadt wie in den dunkelsten Zeiten deutscher Geschichte

Bundespräsident Joachim Gauck mahnte in seiner Rede anlässlich des Volkstrauertages 2015 vor dem deutschen Bundestag, dass sich Geschichte nicht wiederhole, wohl aber menschliche Verhaltensweisen. Wie wahr!

Wetzlar, Bahnhofstraße vor dem Einkaufszentrum „Coloraden“,  Samstagabend, wenige Tage nach dem 9. November, der für wichtige Ereignisse deutscher Geschichte steht. So auch für die Reichspogromnacht 1938: Da stehen sie, mehrere hundert Neo-Nazis, einer gesinnungsechter als der andere. Es ist nicht die Pegidamischung aus wenigen Neonazis und Verstörten und Verängstigten, die glauben, Flüchtlinge würden ihnen die Wohnung ausräumen und die Oma vergewaltigen.

Sie skandieren ihre Sprüche und schaukeln sich in einem Wir-Gefühl der Benachteiligten, die den Mut haben, auszusprechen, was doch die meisten denken, sich aber nicht trauen auszusprechen. Und je mehr sie den Druck der Ausgrenzung spüren, um so dichter stehen sie zusammen. Wechselseitig geben sie sich ein stetig wachsendes Selbstvertrauen, das ihnen die Gesellschaft verwehrt. Und so werden aus Menschen, die noch nie etwas zustande gebracht haben, in ihrer Einheitskleidung unberechenbare Monster wie schon dereinst bei Adolf Hitler aus Loosern in Uniform Massenmörder werden konnten.

Die wenigsten kommen aus Wetzlar und Umgebung. Es sind Krawalltouristen aus Dortmund und anderswo, die wie die verbale Einpeitscherin mit der Bahn nach Wetzlar gekommen sind, um mit den Bildern, die hier wenige Minuten später entstehen werden, eine stolze Stadt übel zu entehren.

Wie immer ist der Nazi Mob nur von wenigen Polizisten umzingelt, während die anderen von der Antifa und dem schwarzen Block Dutzenden Polizisten gegenüber stehen, die ihre Helme und Schlagstöcke jederzeit griffbereit an Frau und Mann haben.

Die Szenerie ist mehr als skurril. Während die einen ihre Demonstration angemeldet haben und nach Verbot den richterlichen Segen zum Fackelzug vom Wetzlarer Bahnhof, einmal durch die Altstadt und wieder zurück, bekommen haben, sind die anderen illegal hier.

Wenige Stunden zuvor hatten sich fast 1000 Gegendemonstranten hier auf dem Buderusplatz versammelt. Die gesamte Politprominenz der Stadt war angetreten, um sich im Rahmen des Rechtsstaats verbal gegen den braunen Mob abzugrenzen. Alle Reden zusammen, jede für sich, hoch anerkennenswert.

Die Gegendemonstranten ziehen, anders als vor einigen Jahren, als der braune Mob schon einmal Wetzlar vereinnahmen und so quasi erobern wollte, weiter in Richtung Domplatz. Dort ist die Bühne für die verbale Aufrüstung und den finalen verbalen Rettungsschuss, der immer gut gemeint, seine Wirkung verfehlen wird, bereitet.

Zurück bleibt am Buderusplatz eine kleine Schar von Antifa-Mitgliedern, die es, sollte es hart auf hart kommen, jedem, der auf dem festen Boden des Rechtsstaates steht, mehr als schwer machen. Heute wollen sie keine Polizisten platt machen. Heute gönnen sie den Vertretern der Staatsmacht nur einen freien Samstagabend, wohlwissend, dass die Damen und Herren hier ihre Pflicht tun müssen.

Der Demonstrationszug der Nazis soll bald beginnen und so kommt die Polizeiansage: „Sie werden nicht mehr durch das Versammlungsgesetz geschützt. Sie behindern einen genehmigten Demonstrationszug. Wir werden Sie jetzt dreimal auffordern, den Buderusplatz zu räumen und über die Brückenstraße nach links in Richtung Garbenheim abzuziehen.“


Das ficht die kleine Schar nicht an. Die Polizisten in ihren martialischen Kampfanzügen umkreisen sie. Die Helme werden schon einmal aufgezogen. Wenige Meter weiter in der Brückenstraße versperren drei Fahrzeuge der Hundeführer die Straße. Die Hunde bellen. Wittern Einsatz und Arbeit.

Die zweite Ansage erfolgt und auch die dritte. Die Spannung steigt. Die, die jetzt erwarten, dass die Polizei den Kreis um die eingezingelte Schar enger ziehen wird, bis die Schar bewegungslos der Staatsmacht ausgeliefert, einfach nur noch weggetragen oder hoffentlich nicht weggeknüppelt werden muss, der irrt. Ehe man sich versieht, überrennt der Nazifackelzug alles, was sich in den Weg stellt.

Leider ist der Budenzauber nicht so schnell vorbei, wie er gekommen ist. Denn der Nazifackelzug entpuppt sich als respektabel lang.

Außer den Fackeln war nichts zu sehen. Die Polizei hat höchst vorsorglich jeden, egal ob zwar gegen Nazis eingestellt, aber doch friedlich oder auch, wie die Antifa, jederzeit bereit, auch körperlich die Kräfte zu messen, in gutem Abstand zum Demonstrationszug der unbelehrbaren Gestrigen fern gehalten. Wenn man sich als Beobachter am Straßenrand gerade wieder zu sich kommt, sieht man, dass die Antifa Demonstranten plötzlich, es sind deutlich weniger geworden, weil sich dann doch einige Ängstliche noch rechtzeitig abgesetzt haben, abgedrängt vor einem Drogeriemarkt stehen. Und so wird es auch die nächsten Stunden bleiben.

Erst als die Nazis, gedeckt von Rechtsstaat und Justiz, erfolgreich mit ihren Fackeln durch die Altstadt gezogen sind und Bilder produziert haben, die denen von vor über 70 Jahren erstaunlich gleichen, sind sie jetzt auf dem Rückweg zum Bahnhof. Auch Nazis haben ein Anrecht auf Feierabend vor Mitternacht. Erst jetzt kommt wieder Bewegung in die Szenerie.

Aufgepeitscht vom eigenen Erfolg, vom Skandieren ihrer menschenverachtenden Sprüche und dem vermeintlichen Gefühl, zwar als Ausgegrenzte doch das aus ihrer Sicht einzig richtige zu tun, und wahrscheinlich auch unter dem Einfluss von Alkohol, marschiert die Truppe der selbsternannten Deutschland-Retter zurück in Richtung Bahnhof, vorbei am Buderusplatz. Anspannung für alle. Die Rechten, aber auch die zahlenmäßig weit, weit unterlegenen Linken, die jetzt bereit sind, Weltanschauung körperlich zu verteidigen. Beides falsch!

Für einen kurzen Moment droht ein Funke der Gewaltbereitschaft sich zu einer Massenschlägerei zu entwickeln. Aber die Gefahr ist, dank der Polizei, zwischen den beiden Lagern gebannt.

Am Rande der italienische Wirt, der aus Angst, dass sein Mobiliar von den Nazis kurz und klein geschlagen wird, einen seiner Gäste anbafft „Halt`s Maul!, damit der nicht mit seinen „Nazi raus“ Rufen, mit denen der Rufer ein Gegengewicht zu den sonst unwidersprochenen eindeutigen Nazi Parolen bieten will, die jederzeit Gewaltbereiten provoziert.

Da ist sie wieder. Die Angst, die schon im Dritten Reich, Vorwand und Einwand für viele bot, zu schweigen statt rechtzeitig Einhalt zu gebieten.

Wieder herrscht Ruhe. Ein kleiner Teil der Staatsmacht begleitet die Nazidemonstration zum Bahnhof. Die Situation ist unter Kontrolle und daran besteht auch für die Polizei kein Zweifel. Denn so traurig es ist, die Absprachen und Zusagen der Nazi Organisatoren haben Bestand. Ordnung muss sein. Organisationstalent haben die Verführer. Obrigkeitsglaube ist ihnen auch nicht fremd. Uniform, ob silberblau oder Nazibraun, ist Uniform.

Zurück am Buderusplatz. Ein Vielfaches an Polizei bewacht eine kleine Schar. In Kleingruppen zu zwei oder drei werden sie zu Einsatzfahrzeugen geführt, um die Personalien aufzunehmen, denn schließlich waren sie im Gegensatz zu den Nazis illegal da!

Wieder eine Skurrilität am Rande: ein unbeteiligter Zaungast verirrt sich hinter der Polizeilinie zu denjenigen, deren Personalien aufgenommen werden sollen, führt zu Irritationen. Auch er soll seine Personalien abgeben. Zur Verwirrung der Polizei meint der aber, dass ihn das ehre. Aber die Vernunft siegt.

Zurück bleiben nur Verlierer. Nur eine Gruppe, die jetzt zur nächsten Untat weiterzieht, ist nicht nur gefühlter Sieger.

Richter, die die Meinungsfreiheit einiger brauner, die zu jeder Zeit gezeigt haben, dass sie dieser Freiheit nicht würdig sind, über die Menschenwürde von Opfern des dritten Reichs bis hin zu Menschen, die auf unsere Solidarität angewiesen sind, stellen. Da stellt sich die Frage, ob aus einem liberalen Rechtsstaat eine liberalala Demokratie wird, die sich selbst vorführen lässt.

Aber auch Politiker, die gesetzestreu sind und weiterziehen. Wären sie einfach, wie viele Mutige vor einigen Jahren, als eine solche Situation schon einmal über Wetzlar hineinbrach, einfach auf dem Buderusplatz geblieben, wo sie waren, um so einfach faktisch den Demonstrationszug der Nazis massiv zu behindern. Dann  hätte man die erneute Entehrung der Altstadt verhindern können. Dazu hätte sicher beachtlicher Mut gehört.

Zurück bleibt die Hilflosigkeit, dass angesichts der vielen Menschen, die aus Angst aus ihrer Heimat flohen und auf unsere Solidarität als Menschen und Christen bauen, sich viele Menschen irritieren lassen und in die Arme der braunen Menschenfänger laufen.

Demokratie muss auch immer wehrhaft sein. Aber was tun, wenn eine heute kleine Gruppe, wie einst, bereit ist und mit Gewalt in der Lage ist, andere einzuschüchtern. Aber dazu gehören zwei, die Einschüchternden und die, die sich einschüchtern lassen.

Bundespräsident Gauck mag recht haben, dass sich Geschichte nicht wiederholt, aber wir haben es heute in der Hand, dass er nicht damit Recht hat, dass sich menschliche Verhaltensmuster gleichen.

Ansonsten besteht die Gefahr, dass wir am Ende resignativ wie Pfarrer Martin Niemöller eingestehen müssen:

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

von Jürgen Erbach

 

alle Videos von der rechtsradikalen Demonstration in Wetzlar hier….

alle Videos der Gegendemo unter dem Motto „Herz statt Hetze“ hier…

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.