Junges Leben in den Wetzlarer Stiftshöfen

Günter Pohl, Stadtverordneter der SPD und Mitglied im Bauausschuss, hat Thesen aufgestellt, die uns zeigen, dass Missverständnisse und Fehlinformationen im Umlauf sind.
Wir möchten nicht unterstellen, dass notwendige Informationen bewusst „vertuscht“ werden. Die folgenden Ausführungen sind keine neuen Erkenntnisse. In Kreisen der Parlamentarier*innen sind sie aber scheinbar nicht angekommen oder nicht verstanden worden. Daher ist es uns ein Bedürfnis, die uns bekannten Fakten festzuhalten. Viele Dinge sind nicht öffentlich verhandelt worden, bzw. im Lauf der Zeit verändert worden. Daher erheben wir nicht den Anspruch, alle Fakten zu kennen.

BÜRGERINITIATIVE „LEBENSWERTE ALTSTADT“


These aus den Reihen der SPD:

„Die Schenkerin wollte mit dem Grundstück für die Kinder der Stadt etwas Gutes tun. Das Testament verpflichtet nach meinem Kenntnisstand nicht die Stadt, für immer und ewig dieses Grundstück für eine Kita zu nutzen. Es wäre damals auch denkbar gewesen, das Grundstück zu verkaufen und mit dem Erlös an anderer Stelle in der Innenstadt zu bauen.“

Günter Pohl (SPD)
https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/kl/id/10692

Das Grundstück Goethestr. 7, auf dem der Kinderhort Marienheim gebaut wurde, gehörte nicht zum Nachlass der Stifterin Hedwig Nold. Das Grundstück gehörte der Stadt und war ein Gartengrundstück. Eine Bebauung war streng genommen gar nicht zulässig.  Es ist uns nicht bekannt, wann die Stadt das Grundstück erworben hat. Der Gedanke das Grundstück zu verkaufen, um den Kinderhort an einer anderen Stelle zu bauen, ist und war daher mehr als abwegig.

Die eigentliche Frage lautet: Warum hat die Stadt genau diesen Ort zwischen Rosengärtchen und Dom ausgewählt? Warum war dieser Ort hinter dem Dom der geeignete Platz für die Errichtung einer Kindertagesstätte im Sinne der Stifterin?

Blick in die Geschichte

Ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt, dass das Leben um den Dom herum immer schon geprägt war von jungen Menschen. Das Marienheim reihte sich ein in ein vielfältiges Ensemble sozial-pädagogischer Einrichtungen.

Das Marienstift

Der Wetzlarer Dom ist der Gottes Mutter Maria geweiht, oder anders gesagt „Unserer Lieben Frau“.

„Das Wetzlarer Kollegiatsstift wird von der Familie der Konradiner aus dem fränkischen Hochadel im 10. Jahrhundert gegründet und Maria geweiht. Die Stiftskirche wird mehrfach umgebaut und vergrößert, wird seit dem 15. Jahrhundert als Dom bezeichnet. Das Stift ist der bedeutendste Grundbesitzer in der Stadt. Gemeinsam mit der städtischen Vertretung setzt es den Pfarrer ein, der in der M a r i e n kirche wirkt. …Das Stift liegt im Zentrum der mittelalterlichen Stadt.“

https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/kl/id/10692

Die neusten Ausgrabungen auf der „Marienwiese“ direkt hinter dem Dom haben Hausgrundrisse und Speichergruben aus der Zeit um 3.500 v. Chr. entdeckt und belegen, dass das Gelände schon in der Bronzezeit besiedelt war. Unerwartet war zudem auch die Aufdeckung von mehreren Flachdarren zur Flachsverarbeitung sowie zwei Kalkbrennöfen aus dem 13. Jahrhundert, die zur Herstellung von Mörtel im ehemaligen Stiftsbezirk dienten und auf eine rege Bautätigkeit verweisen. In eben jenen Zeitraum fallen der Ausbau der Stadtbefestigung sowie die Errichtung der Stiftskirche, des heutigen Wetzlarer Doms.

https://www.giessener-allgemeine.de und https://www.archaeologie-online.de

Zentraler Ort der kath. Sozialpastoral – Das Gertrudishaus

„Im Jahre 1910 reichte der Dalberg“sche Fond die Pläne zum Bau eines Waisenhauses ein, die ein Architekt aus Bingerbrück erstellt hatte.“

https://denkxweb.denkmalpflege-hessen.de

In direkter Nachbarschaft steht das katholische Gertrudishaus. Es hat eine wichtige Bedeutung für das soziale und pädagogische Leben um den Dom herum. In der Vergangenheit diente es als Waisenhaus, Geburtshaus und vor allem als Kindergarten. Das soziale Engagement der Dernbacher Schwestern war bis nach dem Krieg hoch angesehen in der Stadt.

Die Chronik: kath. Kinderbetreuung am Dom

14.12.1887: Genehmigung des zuständigen Ministeriums zur Pflege und Unterweisung von Vorschulkindern

27.12.1887: Vertrag mit Dernbacher Schwestern

04.01.1888: Drei Dernbacher Schwestern treffen in Wetzlar ein

10.01.1888: Eröffnung der Kleinkinder-Bewahrschule mit 25 Kindern

29.11.1911: Einweihung des Gertrudishauses

1930: Renovierung des Kindergartens

1935: Streichung der staatlichen Zuschüsse, Familie Dr. Ernst Leitz unterstützt die Schwestern und deren Schützlinge

1941: Schließung des kath. Kindergartens

Nov. 1945: Wiedereröffnung des Kindergartens

März 1956: Baubeginn des neuen Kindergartens in der Goethestraße

15.06.1959: Auflösung des Kindergartens im Gertrudishaus

https://www.unsereliebefrau-wz.de/

Heute befindet sich neben den gemeindeeigenen Räumen das religionspädagogische Amt und die Fachstelle Jugend des kath. Bezirks Wetzlar.

Lernen im Schatten des Domes – die alte Dechanei

Die alte Dechanei ist ein weiteres historisches Gebäude, das zwischen Rosengärtchen und Marienstift die soziale und pädagogische Landschaft am Dom bereicherte.

„Nach dem Hauptgottesdienst wurde der gesamte Rat der Stadt mit allen städtischen Bediensteten von einem Beauftragten des Marienstiftes in Empfang  genommen.  Der  führte  sie  in  geordnetem Zug  bis  zur  Dechanei,  wo  schon  alles  für  das „Pfingstgras“ vorbereitet war. Der Hof war säuberlich mit Ried bestreut, und unter der großen Linde wartete bereits der Leiter des Stiftskollegiums, der Dekan, mit allen Stiftsherren. Die beiden Gruppen begrüßten einander mit vielen Komplimenten, und die  Ratsherren  überreichten  ihr  Gastgeschenk, sechs  Flaschen  Wein.  Darauf  nahm  man „in rechter Ordnung“ zu beiden Seiten des Dekans Platz.  Man  saß  auf  steinernen  Bänken,  die  mit Teppichen  bedeckt  waren.  Nun  wurden  alle  – ohne Tisch – mit herumgereichten kalten Speisen bewirtet.  So  saßen  Rats-  und  Stiftsherren  am Pfingstsonntag  einträchtig beieinander, um sich `ein paar stund lang beym Instrumentenschlagen mit dem trunck im Herrn lustig zu machen`“

aus Seniorenpost Wetzlar, Januar / Februar 2021, Ausgabe 220

Im Mittelalter war es das Wohnhaus der Stiftsherren und des Dekans. Im 19. Jahrhundert diente es als Lazaret. Später zog die Mädchenschule dort ein. Nach dem Krieg nutzte man die Räume für die sogenannte „Hilfsschule“, Pesstalozzi-Schule. Bevor das Gebäude an private Nutzer verkauft wurde, war auch die Musikschule dort ansässig und eine private Malschule.

Der Vollständigkeit halber sollen hier noch folgende pädagogische Einrichtungen erwähnt werden: die Pfaffengasse 2, in der sich zuerst eine Mädchenschule, dann ein spanischer Kindergarten befand und die Kirchgasse 1, in der schon im Mittelalter schulische Bildung (Stiftsschule) stattfand. Die kath. Jugendarbeit spielte sich nach dem Krieg ebenfalls in der Pfaffengasse 2 ab, später aber im kath. Jugendheim in der Pfaffengasse 1 (1959). Die kath. Kindertagesstätte in der Goethestraße 4 wurde 1957 errichtet.

Katholische Wohltäter*innen

der Dalberg’sche Fonds

Der von Dalberg’sche Kirchen- und Schulfonds geht auf Freiherr Karl Theodor von Dalberg (08.02.1744 – 10.02.1817) zurück. Im Rahmen der Neuordnung des Deutschen Reiches im Zuge des Reichsdeputationshauptschlusses (25.02.1803) erhielt er gemäß §25 unter anderem die Freie Reichsstadt Wetzlar als Grafschaft incl. dem dort bestehenden Marienstift und seines aus dem Mittelalter stammenden Vermögens. Daraus errichtete er am 06.08.1812 durch Ausfertigung einer Dotationsurkunde den Dalberg-Fonds, eine Stiftung kirchlichen Rechts, die bis heute besteht.

https://www.unsereliebefrau-wz.de/index.php/pfarrei-n/gremien/dalberg-fonds.html

Reichsfreiherr von und zu Dalberg hatte ein besonderes Augenmerk auf die künstlerische und schulische Bildung. Für seine Zeit nicht selbstverständlich war sein Engagement für die sozial Schwachen und sein Bemühen um eine konfessionsunabhängige Förderung der Schüler*innen. Die finanzielle Grundlage des Dalberg Fonds stammte aus dem Vermögen des früheren Kollegialstiftes und hatte die „Sicherheit des katholischen Kirchen- und Schulwesens“ im Blick.

Betreuungsnot in den 68ern

Der Bedarf an Hortplätzen stieg immens in den Jahren zwischen 1967und 1973. Die Berufstätigkeit beider Elternteile wurde von vielen Familien angestrebt. Das Fehlen von Hortplätzen wurde öffentlich kritisiert. Die Stadt befand sich im Zugzwang. Die „katholische Betreuung“ um den Dom herum reichte nicht mehr aus.

Der „Dalberg Fonds“ half mit einem Hort-Provisorium im Erdgeschoss des Hauses Goethestr.13 aus. Dies war aber von Anfang an zeitlich befristet, da die Räume für eine Gruppe mit 25 Kindern einfach zu klein waren.

Alle Seiten waren froh, als sich dann die Stadt für den Bau eines neuen Kinderhortes entschied (1972). Der Dalberg Fonds fühlte sich von Anfang an mit dem Hort verbunden und leistete eine Sachspende von 200.000 DM für den Bau der neuen pädagogischen Einrichtung.

Hedwig Nold

Eine entscheidende finanzielle, aber auch sozialpädagogische Initialzündung ging von Frau Hedwig Nold aus. Die gläubige Katholikin und Gemeindemitglied der kath. Domkirchengemeinde überließ Ihr Erbe zum größten Teil der katholischen Kirche, bzw. der Caritas. Ein anderer Teil des Erbes in Höhe von ca. 300.000 DM übergab sie der Stadt Wetzlar mit der Auflage, mit diesem Guthaben eine Kindertagesstätte zu errichten.  

Einen Monat nach dem Tod Hedwig Nold (14.11. 1972) verkündet die Stadt, dass zwischen Dom und Rosengärtchen ein Kinderhort entstehen soll. („Gute Nachricht für berufstätige Mütter“, WNZ 15.12. 1972). Da die Planungen schon abgeschlossen waren, kann man davon ausgehen, dass dies zu Lebzeiten von Frau Nold geschehen war. Stifterin und Stadt müssen miteinander kommuniziert haben. Man kann davon ausgehen, dass die Stifterin wusste, wie ihr Nachlass umgesetzt werden sollte: ein Kinderhort mit dem Namen „Marienheim“ zwischen Marienstift und Rosengärtchen.

Die Eheleute Nold hatten selbst keine Kinder. Mit ihrem angesparten Vermögen wollten sie etwas Gutes für die jungen Familien in ihrer Stadt tun.

Die Wahl des Ortes in der Goethestraße zwischen Dom und Rosengärtchen, zwischen Gertrudishaus, kath. Kindertagesstätte und dem Altenheim „Pariser Gasse“ wird ihr sicherlich gefallen und ihrem letzten Willen entsprochen haben.

Bewertung

Der kleine historische Ausflug zeigt, wie essenziell Schule, Bildung und die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen für das Leben am Dom war und ist. Der Kinderhort Marienheim mit seiner attraktiven Naturwiese konkretisierte wunderbar das Vermächtnis von Hedwig Nold. Das Marienheim reiht sich in die lange Geschichte der Kinder- und Jugendbetreuung in der Nachbarschaft des Marienstiftes. Die eigentlichen Dom(Stifts) – Höfe liegen zwischen Dom und Rosengärtchen.

Die Stadt hat 1972 ganz im Sinne der Stifterin gehandelt. Die Wahl des Ortes im Ensemble der „Stiftshöfe“ ist sehr bewusst gewählt worden. Die damaligen Mitglieder des Dalberg Fonds haben die soziale und pädagogische Investition der Stifterin und der Stadt gefördert. Im Sinne ihrer alten Satzung kümmerten sie sich um die Belange der Kinder und Jugendlichen.
50 Jahre später unterstützt der Dalberg Fonds die Parkhaus-Pläne der Stadt und folgt dem Vorschlag der Stadt: Die „Kirche“ kauft die ganze Marienwiese und verpachtet es der Stadt (Erbpacht). Mit diesem undurchsichtigen „Deal“ war es möglich die Kindertagesstätte abzureißen und den Bau des Parkhauses am Dom zu ermöglichen.

Für viele Wetzlarer*innen ist es unbegreiflich, wie man die naturnahe Kindertagesstätte abreißen kann und weg vom Dom aus der Altstadt heraus verlegen kann. Mit dem Ortswechsel verliert die Einrichtung wortwörtlich ihren Namen und ihr bisheriges soziokulturelles Umfeld: ein historischer Einschnitt, der deswegen Wellen schlägt, weil eine große Beton-Autogarage den im wahrsten Sinne des Wortes „heiligen Ort“ besetzten wird. Ein wichtiger pädagogischer Ort im Zentrum der Altstadt wird zu Gunsten eines Parkhauses aufgegeben. Die Marienwiese wird versiegelt und ökologisch vernichtet. Die Hinweise und Warnungen vor dem Klimawandel werden von den politisch Verantwortlichen und auch von den kirchlichen Vertreter*innen des Dalberg Fonds missachtet.

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